Dünen, Hexen, Sartre: Der Soundtrack zur Kurischen Nehrung
10.12.2025 13:59
Hohe Bäume säumen den Straßenrand. Birken, geradezu ein endloser Streifen. Dann Kiefern, in Reih und Glied. Auch wieder ein ewig langer Abschnitt. Die Straße verläuft anfangs ziemlich gerade, ohne nennenswerte Kurven, ab und zu geht es etwas hoch und runter. Hier, auf der Kurischen Nehrung, gibt es in Richtung Süden nur ein Ziel: Nida, die letzte Stadt vor der Grenze nach Kaliningrad. Oder zumindest den nächsten Parkplatz, von dem man Dünen, das Haff, oder die Ostsee erreichen kann. Es ist Ende Oktober, Nebensaison für Litauen und für diese Landzunge vor der Stadt Klaipeda, die diese merkwürdige Bezeichnung trägt.

Der Begriff "Kurische Nehrung" klang schon immer komisch in meinen Ohren. Was ist Kurisch? Ein Kurort? Nein, sondern das Volk, das hier einst lebte: die Neukuren aus Kurland. Was ist eine Nehrung? Hat nichts mit "wohlgenährt" zu tun, sondern kommt wohl aus dem Mittelhochdeutschen. Und im Englischen heißt es "Curonian Spit", als hätte ein Kuroner hingespuckt. Ich finde ja, langer, bewachsener Sandstreifen kurz vor der eigentlichen Küste - das trifft es irgendwie eher. "Lettische Landzunge" würde die Russen verärgern, denn knapp die Hälfte des gut 98 Kilometer langen Sandstreifens liegt auf dem Gebiet von Kaliningrad.

Ich fahre also an diesem trüben Oktobertag die knapp 50 Kilometer vom Fähranleger in Smiltyne nach Nida im Süden und wieder zurück. Im Mietwagen, allein und erwartungsvoll. Direkt werfe ich die Playlist über das Autoradio an, sie spielt willkürlich Lieder aus dem Handyspeicher. Einige davon passen durchaus zu diesem Roadtrip. Los geht es mit "Irgendwo ist immer Sommer" von Wingenfelder. Mit guter Laune trotz Wolken startet die Tour zum ersten Kreisel hinter der Fähre, direkt durch den Wald und irgendwann einen Hügel hoch. Kein Sommer in Sicht, der muss wirklich irgendwo anders sein. Am Bärenkopf-Parkplatz kann ich die Ostsee erspähen und Kurenwimpel fotografieren, die typischen hölzernen Windfahnen der Region. Es windet, aber wehen wollen die festen Deko-Wimpel trotzdem nicht. Dann weiter in Richtung Süden.

Auf der Playlist läuft "The Blocksberg Rite" von The Vision Bleak. Ich parke am Hexenberg bei Juodkrantė und mache mich auf, den dortigen Märchenpfad zu erkunden. Durch den düsteren Wald führen mehrere Wege an großen Holzskulpturen vorbei, die aus der litauischen Märchen- und Sagenwelt stammen. Im Sommer wird hier einiges los sein, doch jetzt ist es ruhig und ich bin quasi allein. Befürchte ich jedenfalls. Es geht hoch und runter, nach links und rechts, stets erwarten einen kurios geschnitzte Fratzen, Gestalten aus Albträumen, sogar Hexen und der Teufel persönlich. Gruselig, so ganz allein hier durchzustapfen - auch, da die Wege sich ab und zu gabeln und ich dann erst schauen muss, wo es lang geht. Dabei ist die Kurische Nehrung doch gar nicht so breit. Hier, im dichten Wald, wirkt es hingegen, als sei ich fernab von jedweder Zivilisation, wie ein kleiner Hänsel im Hexenwald. Durch die gewundenen Pfade und ohne erkennbare Sonne verliere ich auch die Orientierung und muss doch das Handy zücken, um die korrekte Richtung zu erahnen. Am Ende erreiche ich wieder das Auto, zwar von ganz anderer Richtung als geplant, aber ich atme dennoch erstmal tief durch.

Auf der Playlist läuft "What does the Fox say" von Ylvis. Die Straße führt weiter nach Süden, wieder durch dichten Wald. Plötzlich sehe ich einen Fuchs am Straßenrand. Ich trete auf die Bremse, doch er schaut mich gechillt an und trottet verdächtig ruhig über die Straße. Okay, denke ich, das ist merkwürdig. Doch schon beim nächsten Halt wird mir klar, warum. Ich erreiche den Parkplatz an den "Toten Dünen" - und hier hat sich bereits ein weiterer Fuchs eingefunden, der mich erwartungsvoll anschaut. Will der mich fressen? Da ich hier auch wieder allein bin, bin ich erst einmal ratlos und schaue mich um. Soll ich wirklich aussteigen? Dann sehe ich am Eingang zu den Dünen ein kleines Schild, auf dem steht, dass man die Füchse nicht füttern soll. Ah, dann sind die nur an Menschen gewöhnt und hoffen auf Futter. Ich klappere trotzdem laut herum und mache "Kusch, kusch", als ich aussteige. Man weiß ja nie. Von den Füchsen neugierig beäugt, erklimme ich die hohen Dünen, unter denen mehrere Ortschaften begraben sind. Einzig Kreuze im Sand erinnern noch an sie.

Auf der Playlist läuft "Autumn Grey Views" von Empyrium. Es untermalt die düstere Stimmung, die mich am höchsten Punkt und damit am offiziell begehbaren Ende der "Toten Dünen" erwartet. Zumindest einige andere Menschen haben doch den Weg hierher gefunden, sind aber schon auf dem Rückweg. Habe ich also die grandiose Aussicht auf das Haff und das Festland von Litauen am Horizont für mich allein. Doch der Wind zieht an, die Wolken werden dichter, erste Tropfen fallen auf den Sand und auch auf mich. Ich mache mich auf den Weg zurück, stapfe erst durch rutschigen Sand, dann über hölzerne Latten. Und am Parkplatz streift immer noch ein Fuchs hungrig zwischen den leeren Mülltonnen umher.

Auf der Playlist läuft "The Long and Winding Road" von den Beatles. Die Strecke nach Nida zieht sich ein wenig. Verkehr ist derzeit nicht viel, auch da südlich von Nida die Grenze zum russischen Teil der Nehrung geschlossen ist. In Nida besuche ich das Thomas-Mann-Gedenkmuseum, ein schnuckeliges, blaues Häuschen mit schönem Blick auf das Haff. Vielleicht sollte ich irgendwann doch mal Mann lesen... Die meisten Restaurants im Ort sind geschlossen, aber immerhin finde ich in einem Supermarkt heißen Kaffee und gefüllte Teigtaschen. Ich mache den Fehler und will diese im Freien verzehren. Kaum beiße ich in die erste Tasche, flattern plötzlich ein Dutzend Krähen herbei und schauen mich ähnlich gierig an, so wie die Füchse zuvor. Hastig verschlinge ich den Snack und hinterlasse nur ein paar Krümel, um die sich dann die schwarzen Vögel streiten.

Auf der Playlist läuft "Ticking Bomb" von Aloe Black. Ich blicke von der Parnidis-Düne südlich von Nida nach Russland. Also genauer gesagt, auf den russischen Teil der Nehrung, Teil von Kaliningrad. Ein breiter Streifen aus Sand und Wäldern trennt die beiden Länder. Als der Philosoph Jean-Paul Sartre 1965 hier war (die lebensgroße Skulptur "Gegen den Wind" erinnert daran), soll er über den Ausblick geschrieben haben: „Ich fühle mich, als würde ich an die Tür zum Paradies klopfen.“ Mit Blick auf den Grenzbereich fällt mir dazu angesichts der aktuellen politischen Spannung eher das Gegenteil ein. Klar, die Natur hier ist wunderschön: Von der Parnidis-Düne jedenfalls kann man sowohl das Haff als auch die Ostsee sehen. Meer, Strand, dunkle Wälder. Und viele gebogene Holzbarrieren, die den Sand der Dünen am Weiterwandern hindern sollen. Ein Aufbegehren der Menschheit gegen die Naturgewalten.

Auf der Playlist läuft "Vossiyay Je, Ogon Pogrebalny" von Imperial Age. Ein Lied über das Leid, das von Kriegen verursacht wird, über gefallene Kämpfer und das Hoffen auf ein Wiedersehen auf einer fernen Reise. Bei meinem Besuch wirkt es hier an der Grenze zwischen Litauen und Russland ruhig. Kaum Menschen, auch keine Flugzeuge unterwegs. Allein Tiere und Vögel können mehr oder weniger unbehelligt hier herumstreifen. Doch natürlich bemerke ich die Absperrungen, die Warnschilder an und auf der Straße, die ausdrücklich bedeuten, nicht mehr weiterzufahren. Und einige Gebäude, vor denen Schildern verbieten, hier zu fotografieren. Die Parnidis-Düne ist der letzte Punkt meines Roadtrips auf der Kurischen Nehrung. Es geht also wieder zurück nach Norden.

Auf der Playlist läuft "Don't Pay the Ferryman" von Chris de Burgh. Ich bin die Strecke wieder nach Smiltyne zurückgefahren, bin auch wieder einem Fuchs begegnet, sogar einem aufgeschreckten Reh an einer der kleinen Dünen an der Ostsee, an denen ich noch einmal gehalten habe. Mittlerweile hat es zu regnen begonnen, die Wolkendecke an diesem Nachmittag ist dicht. Ich erwische mit wenig Wartezeit die Fähre - und hier verlangt der Fährmann auch gar kein Geld. Nur das Übersetzen auf die Nehrung ist kostenpflichtig, die kurze Rückfahrt nicht. Und wieder in Klaipeda angekommen, läuft auf der Playlist "Baby Come Back" von Player. Ein andermal vielleicht...

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